Er war der Superstar der Neunziger. Nun will sich Jürgen Beneke seinen letzten großen Sportlertraum erfüllen - den Deutschen Meistertitel im Downhill.

Die bestrumpften Füße hat er vorsichtig auf die scharfkantigen Pedale gestellt, die Hände suchen auf dem Lenker nach der idealen Position. Seit Minuten schon steht er so da, die Schulter an die Wohnzimmerwand gelehnt, das linke Pedal in Antrittsposition vorne, in sich gekehrt, als warte er auf das Startkommando. Sieben Stockwerke weiter unten, wo die 23th Straße die 2nd Avenue schneidet, hupt sich der zähflüssige Endlosstrom aus Taxis und bizarr langen Limousinen durch die Betonschlucht. Von hier oben sieht der Verkehr aus wie ein stählerner Tausendfüßler. Der Lärm dringt durch jede Fensterritze, übertönt die Fernsehnachrichten. Doch Jürgen Beneke (35) hört nichts. Nicht in diesem Moment, den er so lange herbeigesehnt hat. Der seine Gedanken wieder und wieder ausgefüllt hat in den letzten Jahren, der nun Realität geworden ist. Beneke richtet den Oberkörper auf, inhaliert den Augenblick. Er sitzt auf dem Bike eines Sponsors, zum ersten Mal wieder seit neun Jahren. Gestern ist es mit der Post eingetroffen, gold lackiert und mit dicken, schweren Reifen. Im August will er damit ins Trikot des Deutschen Downhill-Meisters rasen. „Das ist mein Traum“, sagt Beneke.

Der Traum klingt verrückt. Beinahe ein Jahrzehnt ist das Karriere-Ende des größten deutschen Downhill-Stars inzwischen her. Nun will er weitermachen. Einfach so. Von null auf hundert. Er, der in den Neunzigerjahren den Downhill-Worldcup gewann und 1999 frustriert von den Rahmenbedingungen das Handtuch warf. Der kaum Zeit fürs Training hat, weil er sich mit diversen Baustellen-Jobs durchschlagen muss. Der mit seinen Siegen einst sechsstellige Jahresgehälter verdiente und heute schon froh ist über Kleckerspenden wie die 500 Dollar einer befreundeten Rockband. „Das ist auch wieder eine Reise. So muss man das sehen“, sagt Beneke zufrieden. Es wirkt nicht aufgesetzt. Er genieße das Gefühl, niemanden etwas schuldig zu sein, betont Beneke immer wieder. „Wenn ich heute ein Rennen vergeige, ruft keiner an und sagt mir, was für eine Pflaume ich bin.“ Freiheit sei das Wichtigste, sagt er. Und sie scheint ihm tatsächlich Flügel zu verleihen. Als er letztes Jahr bei den international top besetzten US-Open an den Start ging, war die Motivation nichts anderes als Spaß. Das Bike hatte er kurz zuvor selbst gekauft, zum Trainieren war die Zeit zu knapp. Am Ende waren nur zwei Fahrer schneller. Beides Profis. „Das hat mich schon erstaunt“, sagt Beneke. Ein Fan fand ein Video vom Rennen auf der Internet-Seite Youtube und schickte es an den deutschen Importeur von Benekes erstem Sponsor Marin. So nahm das Comeback seinen Lauf.

Ohrenbetäubender Verkehrslärm hallt durch die trübe Häuserschlucht, als Beneke mit seinem Bike auf die 2nd Avenue tritt. Neun Millionen Menschen stapelnsich in New York übereinander. Jeder Quadratmeter ist ausgefüllt mit Beton, Teer und dem, was die Lifestyle-Magazine den „Puls der Zeit“ nennen: polierte Einkaufsgelegenheiten, Hochleistungs-Büros und mobil kommunizierende Hektiker. Eigentlich wohnt Beneke zwei Autostunden entfernt auf dem Land. Das Appartement im Stadtzentrum Manhatten nutzt Gattin Stacy unter der Woche. Sie ist Visagistin. Beneke ist gerne zu Besuch. Er liebt New York. Mit Anlauf schwingt er sich aufs Bike, schaukelt ein bisschen auf der Federung herum und hüpft schließlich über die Bordsteinkante mitten hinein in den zähflüssigen Fahrzeugstrom. „Ich finde das total entspannend im Verkehr mitzuschwimmen, auch wenn sich das vielleicht beknackt anhört“, sagt Beneke, der manchmal Trainingseinheiten von vierzig Kilometern Länge auf diese unkonventionelle Weise absolviert. Kernig sieht es aus, wie er nach jedem Ampelstopp im Wiegetritt beschleunigt. Elegant wirkt es, wie er auf dem Hinterrad pedaliert, um Sekunden später auf dem Vorderrad zu rollen. Kaum zu glauben, dass er es so lange ohne Biken ausgehalten hat.

Den Zeitpunkt seiner Rückkehr hätte Beneke nicht besser wählen können. Austragungsort der diesjährigen Deutschen Meisterschaft ist ausgerechnet jenes Tabarz, in dem er einst seinen einzigen nationalen Meistertitel errang. Als Perfektionist war er die Strecke am Abend vor dem Finale noch einmal Meter für Meter abgegangen. Die anderen Fahrer spachtelten bereits Nudeln im Festzelt. Irgendwo mussten sich noch ein paar Zehntelsekunden herausschinden lassen, da war sich Beneke sicher. Er wurde fündig, übersprang am nächsten Tag risikoreich eine Bank, statt, wie die anderen Fahrer, drumherum zu zirkeln, und wurde Sieger. Es war sein letztes Rennen in Deutschland. Sein damaliger Sponsor wollte ihn lieber in amerikanischen Blitzlichtgewittern fahren sehen. Lange ist das her. Sehr lange. Beneke hat sogar Schwierigkeiten, sich an das Jahr zu erinnern. „Ich muss mal bei Marcus Klausmann an den Bus gucken. Die Jahreszahl, die da bei der Auflistung seiner Meistertitel fehlt, war das Jahr, in dem ich gewonnen habe“, lacht Beneke, selbst verblüfft über seine Gedächtnislücke. Aber es ist ja inzwischen auch schon zwölf Jahre her. Fit sieht Beneke aus. Das Gesicht wirkt hart, auf den Armen zeichnen sich dicke Adern ab. „Kommt von der Baustellenarbeit“, winkt Beneke ab.

Jürgen Beneke kam am 23. Februar in Hanau zur Welt. Sein Vater arbeitete als Küchenchef in der gehobenen Hotelgastronomie, ständige Umzüge bestimmten Benekes Kindheit. Er spielte Fußball und Eishockey und meldete sich schließlich beim Radverein RIG Freiburg an. Er fuhr Straßen-, Bahn- und Querfeldeinrennen und gehörte schon bald zur deutschen Spitze. Eine Norwegen-Reise sollte im Sommer 1991 jedoch alles verändern. Der schwerpunktmäßig durch den Verkauf von eingeschmuggeltem Alkohol finanzierte Zelturlaub wurde von der Teilnahme an einem Downhill-Rennen gekrönt. Beneke raste auf den siebenten Platz und durfte sich über 500 Dollar Preisgeld freuen. „Das geht ja einfach, dachte ich mir“, erinnert sich Beneke. Im Jahr darauf reiste er mit einem gebraucht gekauften Rocky Mountain von Downhill-Rennen zu Downhill-Rennen. Zunächst auf eigene Kosten. Dann ging es Schlag auf Schlag. Siege beim Worldcup, dem legendären Kamikaze-Downhill, bei internationalen Top-Events. Innenminister Kanther schickte einen Silberteller: „Für besondere Verdienste im Sport“ stand darauf eingraviert. „Beni, Beni!“, skandierten die Massen am Streckenrand. Es war die Zeit, als das Fernsehen zur besten Sendezeit von jedem Worldcup berichtete. Die Zeit, in der die Gehälter der Top-Fahrer stiegen wie Erdöl-Aktien. Die Zeit, als der Downhill-Sport mit seinen vielen aufgeregten Managern, Mechanikern, Pressesprechern und Ingenieuren in einem Atemzug mit der Formel 1 genannt werden wollte. Als sich der langjährige Worldcup-Sponsor Grundig Ende der Neunziger zurückzog, geriet das Kartenhaus ins Wanken. Gehälter wurden radikal gekürzt, teure Stars entlassen, Fernsehübertragungen eingestellt. Obwohl noch immer an der Weltspitze, verkündete Beneke 1999 seinen Rücktritt. „Ich war ausgebrannt, demoralisiert, völlig fertig. Ich hatte aus Spaß mit dem Downhill begonnen. Am Schluss bekam ich alles vorgeschrieben. Das Essen bei den Rennen wurde nur bezahlt, wenn man geschlossen mit dem ganzen Team ging. Stacy durfte nicht in meinem Hotelzimmer übernachten. Ich hielt das nicht mehr aus“, klagt Beneke. Sechs Jahre lang fasste er kein Rad an. Vom Freeride-Boom hat er kaum etwas mitbekommen. „Einmal habe ich ein Video geschaut. Nett, aber nichts für einen Sekundenschleifer wie mich.“

Beneke staut sich mit seinem Van durch den New Yorker Nachmittagsverkehr ostwärts. Das Bike liegt im Kofferraum. Es geht zurück nach Newport, einem verträumten Ort in den malerischen Catskill-Mountains. Zunächst vorbei am Schmuddel-Viertel Bronx, dann zwei Stunden lang schnurstracks geradeaus den Highway Richtung Kanada hoch. Vor ein paar Jahren ist Beneke mit seiner Stacy hergezogen, der ruhigen Lage wegen. Doch die Idylle ist trügerisch. Wenn Beneke über den Alltag spricht, verschwindet das Funkeln aus seinen Augen, das beim Cruisen durch New York gerade noch alles überstrahlt hat. Amerika ist ein eiskaltes Land, wenn es um soziale Dinge geht. Rente, Arbeitslosengeld, Krankenversicherung – jeder hat sich selbst zu kümmern. Beneke macht das auf seine Art. Er kauft Häuser, die mit dem Begriff „sanierungsbedürftig“ eher schmeichelhaft beschrieben sind, bringt sie in Schuss und verkauft oder vermietet sie. Drei Häuser besitzt er inzwischen. Siebenundzwanzig Jahre muss er noch abzahlen. Dann sollen die Mieteinnahmen seine Rente sichern. In Zeiten der Immobilienkrise allerdings eine wacklige Rücklage. In der Nachbarschaft stehen immer mehr Häuser leer oder zum Verkauf. Beneke spricht nicht offen darüber, doch die Zukunftsangst ist ihm deutlich anzumerken. Den Ohrring, früher sein Markenzeichen, hat er entfernt, um Auftraggebern gegenüber seriöser zu wirken. Er hasst Präsident Bush, der Milliarden mit Kriegen verpulvert, während das Sozialsystem vor sich hinsiecht. Als Bush für seine zweite Amtszeit gewählt wurde, trennte sich Beneke aus Frust von einem Geschäftspartner, der für den Republikaner gestimmt hatte. Aus Protest gegen die aggressive Politik zog Beneke sogar die bereits beantragte amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. Oft denke er daran, vielleicht irgendwann wieder in Deutschland zu leben. „In Amerika ist vieles extrem oberflächlich“, klagt Beneke, der am liebsten deutsche Musik hört – Grönemeyer, Westernhagen, BAP, die klampfende Folklore-Abteilung. „Hey Honey, is this Falco?“, ruft Gattin Stacy dann, um wie so oft kichernd hinterherzuschnattern: „Quatsch, Quatsch, Quatsch!“ Quatsch ist ihr deutsches Lieblingswort. Für den Fall, dass sie mit ihrem Honey „Dschörgen“ wirklich einmal nach Deutschland zieht, will sie jetzt die Sprache lernen. Die Trails dort sollen schließlich „unbelievable“ sein, weiß die Mountainbike-Fanatikerin.

Es ist kurz vor 19 Uhr. Beneke und Gattin haben es sich bei Freunden auf dem Fußboden gemütlich gemacht und knabbern Chips. Gleich beginnt das Superbowl-Finale der American-Football-Liga. Die New York Giants gegen die New England Patriots. Pflichtprogramm für jeden Amerikaner. Worauf die Namensidee der Sportart basiert, ist etwas unklar, denn geschossen wird vorwiegend mit der Hand. Sobald ein Spieler den Ball fängt, stürzen sich alle anderen auf ihn drauf, mehr passiert eigentlich nicht. Die Zuschauer im Fernsehen sind begeistert. „Das ist Amerika“, lacht Beneke, zerbeißt einen Chip und spricht schließlich das aus, was man die ganze Zeit ohnehin schon vermutet: „Ich würde gerne mit Stacy für ein halbes Jahr nach Deutschland kommen. Vielleicht läuft es ja und ich finde noch mal einen Sponsor. Eine Saison – das würde mir schon reichen.“ Dann würde er wieder oben stehen und auf den Startschuss warten, die Füße eingeklickt, die Hände nach der idealen Position am Lenker suchend. Und unten würde nicht die 2nd Avenue toben, sondern das „Beni, Beni!“ der Zuschauermassen. Eine schöne Vorstellung
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Bilder: Oliver Soulas

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